Midwinter
#1
Der Staatsakt zu Midwinter
Der Staatsakt zu Midwinter ist kein Fest, sondern eine Pflichthandlung.
Er wird ausschließlich von Alrun Amalbalde vollzogen.
Ohne Vertretung. Ohne Rede. Ohne Delegation.
Der Zeitpunkt ist festgelegt auf den exakten Moment der Wintersonnenwende.

Kurz vor dem Wendepunkt verlässt Alrun Amalbalde allein das Gebäude des Zentralkommandos. Es gibt keine Eskorte in Formation, nur Abstand; die Sicherheitskräfte sind präsent, aber reglos. Sie trägt keine Paradeuniform, keine Orden, keinen Schmuck, sondern die schlichte Staatsuniform ohne Rangabzeichen. Auf dem zentralen Platz brennt ein einzelnes Feuer. Es ist nicht neu entzündet, nicht frisch entfacht, sondern brennt seit Stunden. Alrun tritt an die Feuerstelle, bleibt stehen und spricht nicht. Dann legt sie einen Gegenstand ins Feuer, jedes Jahr derselbe Typus, dessen Bedeutung nie öffentlich erklärt wird: ein schlichtes Zeichen staatlicher Verantwortung, funktional, unsymbolisch im Material, eindeutig in der Aussage. Erst danach hebt sie den Blick, nicht zum Volk, nicht zu den Kameras, sondern zum Himmel. Der Moment dauert nur wenige Sekunden. 
Dann wendet sie sich ab und geht.
Titel: Marschall der Freien Irkanischen Republik, Befehlshaberin des 'Kommando Besondere Operationen', Leiterin der Kommandoabteilung Außenpolitik 3 (Harnar und Renzia)
"Die gegenwärtige Epoche ist eine Epoche der Souveränität. Die früher unterdrückten Völker sind als Herren der Welt aufgetreten und bringen die Geschichte nachhaltig voran." — Neujahrsansprache 2020

The Whisper in the Wires
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#2
Während der Staatsakt vollzogen wird, verlangsamt sich die Republik spürbar. Verwaltungen haben geschlossen, Produktionslinien stehen still oder laufen im Leerlauf, der Verkehr ist ausgedünnt. Was weiterarbeitet, tut es sichtbar reduziert: Energie, Wasser, medizinische Versorgung, Sicherheit. Nicht als Ausnahmezustand, sondern als bewusst gesetzte Grenze. Der Staat bleibt präsent, aber zurückgenommen.

In den Städten sind die großen Leuchtflächen dunkel. Öffentliche Beleuchtung ist gedimmt, Wege und Plätze bleiben erkennbar, aber ohne Glanz. Auf zentralen Plätzen brennen Feuerstellen, die bereits seit dem Nachmittag gehalten werden. Sie werden nicht neu entzündet und nicht bewacht, sondern betreut. Menschen kommen, bleiben stehen, gehen weiter. Es gibt keine Ansagen, keine Musik, keine Markierungen. Gespräche sind leiser als sonst, nicht aus Vorschrift, sondern aus Übereinkunft.

In Wohnblocks und Häusern sitzen Familien und Nachbarschaften zusammen. Mahlzeiten sind einfach, oft gemeinsam vorbereitet, ohne festgelegte Reihenfolge oder Form. Alkohol ist vorhanden, aber nicht leitend. Geschenke werden gegeben oder nicht gegeben, beides ist unauffällig. Namen der Verstorbenen fallen häufiger als sonst, ohne Pathos. Manche halten kurze Schweigephasen ein, andere nicht. Beides gilt.

Auf dem Land versammeln sich Klans an eigenen Feuern. Opfergaben bestehen aus Nahrung, Holz, Arbeitsmaterial. Blutopfer finden nicht statt. Der Zeitpunkt richtet sich häufig nach der exakten Sonnenwende; wer sie verpasst, wiederholt nichts. Sumbel werden abgehalten, doch Schwüre sind selten und zurückhaltend. Dank und Anerkennung überwiegen.
Militärische Einrichtungen bleiben ruhig. Es gibt keine Paraden, keine Gelöbnisse, keine öffentlichen Zeichen. In Einheiten werden Namen gelesen, Minuten gehalten, dann endet es. Waffen bleiben unberührt. Der Dienst läuft weiter, aber ohne sichtbare Verdichtung.

Medien übertragen den Staatsakt live und kommentarlos. Danach folgen Musik oder Stille. Es gibt keine Einordnung, keine Analyse, keine Wiederholung. Die Nacht gehört nicht der Erklärung.
So vergeht Midwinter in der Republik: ohne Höhepunkt, ohne Abschluss. Erst am Morgen, wenn der Tag messbar länger wird, kehrt die gewohnte Bewegung zurück. Nicht abrupt, sondern gleichmäßig. Der Sinn des Tages erschöpft sich darin, dass er stattgefunden hat.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
den hohen Baum mit heiligem Wasser besprengt;
von ihm fällt Tau in die Täler nieder,
immergrün steht er am Urdbrunnen.

Völuspá, Die Edda

Das Schicksal ist ein Netz, gewoben von Urd, Verdandi und Skuld – unausweichlich, unergründlich, und doch voller Möglichkeiten.
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