Ein Tag nach dem Reinheitsgesetz – Republik in Umstellung
#1
GENEPOHL, 06:00 Uhr
Der Befehl kam nachts. Nicht laut. Kein Marschtritt, keine Sirenen. Nur eine aktualisierte Systemnachricht im IRK-Net:
„Strukturbefehl 99: Reinheitsgesetz 2466 in Kraft. Maßnahmen nach §3 und §4 beginnen. Verifizierungen laufen. Bleiben Sie in Verbindung.“
In den Morgennachrichten spricht das Zentralkommando von einem „Tag der Klärung“. Die üblichen Begriffe: Ordnung, Zusammenhalt, Reinigung.
07:30 Uhr
In Verwaltungsgebäuden erscheinen Protokollführer der Behörde für strukturelle Integrität (BSI). Ihre Uniformen sind schlicht grau mit einem schwarzen Band am linken Arm. Kein Exzess, keine Theatralik. Wer sich weigert, die neue Haltungserklärung zu unterzeichnen, wird registriert, freundlich verabschiedet – und ersetzt.
08:00 Uhr
In Schulen beginnen Lehrkörper mit der Unterzeichnung der Wertebindung. Lehrer, die zögern oder relativieren, werden nicht verhaftet. Aber ihre Zugangskarten deaktivieren sich automatisch. Innerhalb weniger Stunden übernehmen Ersatzpädagogen aus dem Reservedienst für Strukturwahrung den Unterricht. Einige Schüler berichten, dass Unterrichtstafeln aktualisiert wurden: „Geschlecht ist kein Dogma.“ steht dort in klarer Schrift.
10:00 Uhr
In Konzernzentralen – besonders in Genepohl, Irkania-Stadd und Maltretonia – greifen automatisierte Prüfalgorithmen auf interne Kommunikation zu. Interne Foren, Memos, Personalakten. Keine Säuberung – sondern Segmentierung. Verdächtige Inhalte werden markiert, nicht gelöscht. Die BSI beginnt Gespräche mit HR-Abteilungen, oft ruhig, manchmal mit sofortigem Personalwechsel.
11:30 Uhr
In den religiösen Einrichtungen beginnt die Deklarationsphase. Viele Shinto- und Asatru-Tempel unterschreiben sofort – sie hatten ohnehin kaum Berührung mit den Problemfeldern. Doch in manchen neueren, radikaleren Ablegern wird es still. Manche schließen ihre Tore freiwillig. Andere werden abends versiegelt. Die Beamten bleiben respektvoll, aber fest.
14:00 Uhr
Im IRK-Net erscheinen erste Meldungen: Influencer-Konten abgeschaltet, einzelne Foren archiviert, Kommunikationsplattformen pausiert. Die Plattformen erhalten Empfehlungen zur strukturellen Eigenprüfung – als „dringend“, aber nicht „zwingend“. Wer reagiert, bleibt; wer schweigt, wird ersetzt.
17:00 Uhr
Die Nachrichtensender sprechen ruhig, beinahe medizinisch über den Tag:
Zitat:„Die Republik befindet sich in einem Zustand der strukturellen Neuordnung. Es gibt keine Proteste. Nur Einordnungen.“
19:30 Uhr
In Familienbloks wird diskutiert. Am Grillplatz ein Onkel, der sich über „gendertriefende Pflichtformulare“ beklagt – seine Stimme wird nicht unterdrückt. Nur vermerkt. Niemand holt ihn ab. Aber am nächsten Tag arbeitet er nicht mehr im Transportdienst. Und niemand erklärt ihm warum.
21:00 Uhr
Alrun Amalbalde erscheint in einer Direktansprache. Keine martialische Rede – nur ein ruhiges, intensives Gesicht. Sie spricht über Verletzlichkeit. Über Schutz. Über die Verantwortung, keine Gewalt zu brauchen, weil die Struktur stärker ist als jedes Vorurteil.
Zitat:"Niemand wurde heute gezwungen. Nur erinnert. Wer das Kollektiv missachtet, wird nicht vernichtet. Er wird aus der Struktur entfernt. Jede darf denken, was sie will – aber wer andere verletzt, darf hier nicht handeln."
Mitternacht.
Das Land schläft. Manche nervös. Viele erleichtert. Alles wirkt ruhig. Zu ruhig, sagen manche. Andere sagen: Endlich.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
den hohen Baum mit heiligem Wasser besprengt;
von ihm fällt Tau in die Täler nieder,
immergrün steht er am Urdbrunnen.

Völuspá, Die Edda

Das Schicksal ist ein Netz, gewoben von Urd, Verdandi und Skuld – unausweichlich, unergründlich, und doch voller Möglichkeiten.
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#2
GENEPOHL, 04:30 Uhr
Noch vor Sonnenaufgang häufen sich anonyme Meldungen im IRK-Net:
„Sie kommen uns holen.“ – „Ich lasse mir mein Denken nicht verbieten.“ – „Trans-Agenda ist Kindesmissbrauch.“
Niemand weiß, wer diese Nachrichten schreibt. Manche stammen von echten Nutzern. Andere von alten Klansplittern, von fremden Knotenpunkten oder längst stillgelegten Servern. Die Stimmung ist grell und dumpf zugleich.
06:10 Uhr – erste Gewaltakte
Ein Reinigungsfahrzeug in Midgardia wird gestoppt, der Fahrer gezerrt, beschimpft, bespuckt: „Staatsdiener der Entartung“. Drei Jugendliche filmen es, posten es mit dem Tag: #ReinBlutRecht
Es verbreitet sich, dann verschwindet es – gelöscht durch Moderation oder durch Scham.
08:00 Uhr – brennende Symbole
In den Straßen von Sumrhiz brennen provisorische Altäre – mit Kinderspielzeug, Bibelzitaten, zerfledderten Schulheften. Die Initiatoren: eine religiöse Splittergruppe ohne Zentrum. Ihre Liturgie: „Gott hat Mann und Frau geschaffen. Dazwischen ist der Feind.“ Ein Großvater schreit weinend ins Mikrofon. Niemand greift ein.
09:15 Uhr – bewaffneter Widerstand
In einem Nebengebäude einer Berufsschule in Tarwah wird ein kleiner Kreis reaktionärer Lehrer entdeckt – mit Sturmgepäck, Kurzwaffen, Vorräten. Ihre Schule wurde tags zuvor neu strukturiert. Ihr Manifest: „Wir schützen die Kinder vor ideologischer Kastration.“
Die Festnahme durch Naudiz-Einheiten verläuft still. Einer weint. Einer lacht. Einer erschießt sich im Sanitärraum.
11:00 Uhr – Klankollisionen
Im ländlichen Hallvard geraten zwei Klanvertreter aneinander. Ein Mitglied der sonr ar irkania beschimpft eine Klanmutter des kol'kzing als „Kollaborateurin des Fleischmarktes“. Es fliegen Fäuste. Es wird gestreamt. Noch bevor die Polizei eintrifft, hat ein Drittel der Zuschauer in den Kommentaren bereits Zustimmung signalisiert.
13:30 Uhr – Netzwerküberflutung
Memes, Karikaturen, Mordaufrufe: Das IRK-Net wird geflutet. Besonders betroffen: Lehrer, Mediziner, junge Amtsträgerinnen. Ein durchgesickertes internes Memo warnt vor „asymmetrischer Zersetzung durch Desinformationsmassierung“. Es heißt: „Kein organisiertes Zentrum. Nur kollektive Panik mit Zielvorstellung.“
15:00 Uhr – erste Gegendekrete
Das Zentralkommando ruft Strukturalarmstufe BETA aus.
– Aktivierung zusätzlicher Ressourcen für die Behörde für strukturelle Integrität (BSI)
– Verstärkung der IRK-Net-Analyse durch Algorithmus ØRN
– Entsiegelung ehemaliger Kohärenzräume in Universitäten und Mediatheken
16:45 Uhr – ein Kind wird verletzt
In einem Wohnblock in Borealis wird ein elfjähriges Kind mit queerem Auftreten von einem Nachbarn mit heißem Tee übergossen. Es überlebt mit Verbrühungen. Die Mutter spricht in die Kamera: „Wir wollten nur zur Schule. Ich dachte, das sei vorbei.“
19:00 Uhr – erste Listen tauchen auf
An Bushaltestellen, in alten Kirchengemeinden, in Offline-Gemeinschaften erscheinen handgeschriebene Listen mit Namen, angeblich „Umwandler, Zerstörer, Agenten der Lehre“. Manche Namen sind echt, andere erfunden. Die Adressen sind korrekt.
22:00 Uhr – Alrun schweigt
Zum ersten Mal seit Tagen keine Rede der Marschallin. Kein Auftritt. Kein Kommentar. Nur ein lakonischer Eintrag aus dem Zentralkommando:
Zitat:„Was sich wehrt, war bereits Teil des Problems. Was sich häutet, war nie stabil. Wir sehen alles. Und wir warten nicht.“
23:58 Uhr – Nacht
In Eula, in einem kleinen Apartment, schreibt ein älterer Mann, Ex-Offizier, Witwer, diese Worte in sein altes Klanbuch:
Zitat:„Ich habe geglaubt, die Würde sei ein Panzer. Aber sie war ein Licht. Nun schießen sie darauf wie auf Vögel.“
– und unterschreibt mit zitternder Hand:
Ehemals: Freed der Republik. Jetzt: Niemand.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
den hohen Baum mit heiligem Wasser besprengt;
von ihm fällt Tau in die Täler nieder,
immergrün steht er am Urdbrunnen.

Völuspá, Die Edda

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#3
GENEPOHL, 07:00 Uhr
Der Himmel ist bewölkt. Keine Truppen auf den Straßen. Keine Notstandsverhängung. Nur eine neue Zeile im öffentlichen Register:
Zitat:Zentralkommando – Direktive 23/2466
„Die Ordnung bleibt. Wer an ihr zerbricht, war nie Teil von ihr.“
Die Kommunikation wird ruhiger, nicht schärfer. Offizielle Sprecher vermeiden martialische Begriffe. Stattdessen Begriffe wie „Integritätsabgleich“, „Strukturberuhigung“, „Sicherungsfeldpflege“.
08:45 Uhr
In öffentlichen Einrichtungen hängen neue Plakate: „Kein Rückschritt. Kein Streit. Nur Klarheit.“
An Bahnhöfen verteilen Ehrenamtliche Tee. Nicht zur Beruhigung – sondern als Geste: „Die Republik hat Zeit. Wer sie nicht hat, muss sich fragen, wem er dient.“
10:00 Uhr – Medienansage
Der Sprecher der BSI, mit ruhiger Stimme:
Zitat:„Wir verfolgen keine Gegner. Wir heilen das System. Wer Gewalt will, hat bereits verloren. Wer bleibt, wird gesehen.“
13:00 Uhr – Struktureller Umbau
Ohne große Worte beginnen universitäre Einrichtungen, Klinikleitungen, lokale Verwaltungen, ihre Strukturen in Selbstprüfung zu überführen. Leitbilder werden überarbeitet. Personalakten geöffnet. Nicht um zu bestrafen – sondern um Vertrauen zu ersetzen, wo es zerfiel.
16:00 Uhr – die Einladung
Alrun Amalbalde kündigt über das IRK-Net eine Direktübertragung aus Irkania-Stadd an. Kein offizieller Rahmen. Keine Flagge. Nur ein kleiner Saal. Vor ihr: Schüler, Pflegerinnen, einfache Bürger. Hinter ihr: Stille.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
den hohen Baum mit heiligem Wasser besprengt;
von ihm fällt Tau in die Täler nieder,
immergrün steht er am Urdbrunnen.

Völuspá, Die Edda

Das Schicksal ist ein Netz, gewoben von Urd, Verdandi und Skuld – unausweichlich, unergründlich, und doch voller Möglichkeiten.
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#4
„Ich bin Alrun. Ich bin Marschallin. Aber heute spreche ich nur als Mensch.
Ich habe gesehen, was gesagt wurde. Gelesen, was über Menschen wie mich geschrieben wurde.
Ich bin nicht überrascht. Ich bin verletzt, ja, aber nicht überrascht.
Ich bin neurodivergent. Ich bin bi. Ich bin Frau. Ich habe geschwankt, gezweifelt, gestritten mit mir selbst.
Und es waren keine Gesetze, die mir geholfen haben, sondern Menschen, die stehen geblieben sind, als ich gefallen bin.
Wir haben ein Gesetz beschlossen, weil wir nicht mehr wollen, dass wenn jemand fällt und niemand bleibt stehen.
Die Reaktion, die wir gesehen haben, zeigt uns nicht, dass wir zu weit gegangen sind. Sie zeigt, dass wir richtig liegen.
Es gibt keine Rückkehr. Nicht zu den Tagen, an denen Menschen ihre Kinder verleugnen mussten. Nicht zu den Tagen, an denen Frauen die Sprache genommen wurde. Nicht zu den Tagen, an denen ein Körper mehr wert war als ein anderer.
Ich will nicht eure Angst. Ich will eure Klarheit.
Wer mit uns lebt, lebt geschützt. Wer gegen uns lebt, lebt nicht verfolgt, sondern außerhalb der Struktur.
Wir jagen niemanden. Aber wir retten auch niemanden, der brennt, weil er selbst zündelt.
Ich weiß, dass ich nicht jedem gefalle. Ich weiß, dass mein Gesicht, mein Leben, meine Entscheidungen provozieren.
Das darf so sein. Aber: Ich werde mich nicht entschuldigen, weil ich existiere.
Und niemand sonst soll das müssen.
Struktur ist kein Panzer. Struktur ist ein Versprechen.
Wer darunter stehen will, der hat Platz.
Wer es zerbrechen will, muss draußen bleiben.
Das ist alles.“
Titel: Marschall der Freien Irkanischen Republik, Befehlshaberin des 'Kommando Besondere Operationen', Leiterin der Kommandoabteilung Außenpolitik 3 (Harnar und Renzia)
"Die gegenwärtige Epoche ist eine Epoche der Souveränität. Die früher unterdrückten Völker sind als Herren der Welt aufgetreten und bringen die Geschichte nachhaltig voran." — Neujahrsansprache 2020

The Whisper in the Wires
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