Strom war noch da. Menschen nicht mehr.
#1
Eintrag vom Þorsdaag, 28. Lensmond 2466 ii
Übermittelt durch: Veljo Anundsonr Kaldrik, Elektrotechniker, Wartungsschleife G–Nord, SIN-Knotenstelle 441-C
„Strom war noch da. Menschen nicht mehr.“

Veljo stieg zwei Stockwerke zu Fuß. Der Aufzug war seit Wochen abgeschaltet, angeblich wegen Wartung. In Wahrheit, dachte er, hatte sich einfach niemand mehr beschwert. Strom gab es. Nur kein Ziel.
Stockwerk 7 war leer. Dabei war es nicht leer.
Er prüfte die Anzeige der Verteilerbox. Netz stabil, Verbrauch normal. Die Leitung zur Wohnung 704 war aktiv. Das Licht darin ebenfalls. Doch niemand antwortete auf sein Klopfen. Niemand rief zurück, als er nach „Haussicherheit“ fragte.
Ein Schatten bewegte sich hinter der Tür. Dann nichts.
Die Wohnung daneben war offen. Ein Paar Schuhe. Eine Zeitung vom Vortag. Wasserhahn tropfte. Der SIN-Knoten in der Wand zeigte an, dass vier Geräte aktiv waren. Doch keine Stimmen, keine Spuren. Nur das Sirren der Leuchtstoffröhre im Flur. Und etwas, das wie Atem klang.
Veljo trat zurück. Man hatte ihm beigebracht, keine Türen zu öffnen, die bereits offen waren.
Im Treppenhaus begegnete er einem Kind. Mädchen. Vielleicht elf. Kein Blickkontakt. Kein Wort. Nur ein Klemmbrett in der Hand. Auf dem Klemmbrett: eine Liste. Keine Namen, nur Nummern.
„Die kommen nicht wieder“, sagte sie leise. Dann ging sie weiter. Als wäre das normal.
Veljo arbeitete die Wartung zu Ende. Er schrieb, was fehlte. Er reparierte, was blinkte. Dann ging er zurück.
Er stellte keine Fragen.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
den hohen Baum mit heiligem Wasser besprengt;
von ihm fällt Tau in die Täler nieder,
immergrün steht er am Urdbrunnen.

Völuspá, Die Edda

Das Schicksal ist ein Netz, gewoben von Urd, Verdandi und Skuld – unausweichlich, unergründlich, und doch voller Möglichkeiten.
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Strom war noch da. Menschen nicht mehr. - von Nornen - 28.06.2025, 20:08

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste