Malthafen
#1
Malthafen war nie leise gewesen. Der Hafen atmete rund um die Uhr, Kräne kreischten, Generatoren brummten, und irgendwo klirrte immer Metall. Doch in diesen Tagen hatte sich der Klang verändert. Er war unregelmäßig geworden, zerrissen von Schüssen, Sirenen und dem dumpfen Knall improvisierter Sprengladungen. Im Osten lag das Meer wie eine schwarze Fläche aus Glas, im Westen drückten die Lagerhallen und Wohnblöcke die Hitze zurück in die Straßen.

Es begann nicht mit einer offenen Schlacht, sondern mit kleinen Verschiebungen. Ein Umschlagplatz wechselte den Besitzer. Ein Spediteur zahlte plötzlich an jemanden, den er vorher nicht kannte. Ein Hafenviertel bekam neue Farben an den Wänden, fremde Zeichen, hastig gesprüht. Die Gerüchte sprachen von Banden aus Maltretonia, die den Sprung nach westen wagten. Erst Händler, dann Vollstrecker, schließlich bewaffnete Trupps. Malthafen war attraktiv: weniger Aufmerksamkeit, aber dieselben Waren.

Innerhalb weniger Nächte zerfiel die Stadt in Zonen. Kreuzungen wurden mit brennenden Containern blockiert, Scharfschützen bezogen Stellung auf Silodächern, und ganze Straßenzüge wurden zu Niemandsland. Die Polizei hielt noch einzelne Korridore, doch sie war sichtbar überfordert. Patrouillen fuhren nur noch in Konvois, hielten kurz, zogen sich zurück. Die Bevölkerung verschanzte sich hinter Rollläden und improvisierten Barrikaden aus Paletten und Draht.

Als es eskalierte, geschah es offen. Zwei rivalisierende Gruppen trafen am alten Ostkai aufeinander, dort, wo rostige Frachter seit Jahren auf ihre Zerlegung warteten. Maschinengewehrfeuer hallte über das Wasser, Leuchtspurmunition zeichnete kurze Linien in die Nacht. Ein Treibstofftank fing Feuer, die Flammen spiegelten sich auf den Wellen und machten den Hafen für Minuten taghell.

Dann kam das Militär. Nicht abrupt, sondern mit einer kalten, systematischen Präsenz. Zuerst verschwanden die Signale. Mobilfunk brach ab, Drohnen der Banden stürzten aus dem Himmel, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Kurz darauf rollten gepanzerte Fahrzeuge über die Hauptachsen, begleitet von Infanterie, die sich nicht hetzen ließ. Kein Warnruf, kein theatrales Auftreten.

Sperren wurden gesetzt, Viertel abgeriegelt, Haus für Haus durchsucht. Wer die Waffen fallen ließ, wurde abgeführt. Wer schoss, wurde niedergehalten. Über dem Hafen hing das tiefe Dröhnen von Rotoren, während Scheinwerfer Dächer und Kaianlagen abtasteten. Die Auseinandersetzungen brachen nicht in einem großen Moment zusammen, sondern in vielen kleinen. Eine Stellung nach der anderen verstummte.

Am Morgen lag Malthafen erschöpft unter grauem Himmel. Rauch zog noch aus vereinzelten Ruinen, Patronenhülsen lagen in den Rinnen. Das Meer im Osten war wieder ruhig. Militärposten standen an den Zufahrten, Listen wurden erstellt, Namen gesammelt. Die Banden aus der Metropole hatten Fuß fassen wollen. Sie hatten unterschätzt, wie schnell Ordnung zurückkehrte, wenn sie einmal entschieden wurde.

Malthafen lebte weiter. Der Hafen nahm die Arbeit wieder auf. Doch seit dieser Nacht wussten alle, wie dünn die Grenze gewesen war zwischen einer Stadt und einem Schlachtfeld – und wie rasch sie überschritten werden konnte.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
den hohen Baum mit heiligem Wasser besprengt;
von ihm fällt Tau in die Täler nieder,
immergrün steht er am Urdbrunnen.

Völuspá, Die Edda

Das Schicksal ist ein Netz, gewoben von Urd, Verdandi und Skuld – unausweichlich, unergründlich, und doch voller Möglichkeiten.
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Malthafen - von Nornen - Gestern, 20:12

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