[Naugard] (WG-)Wohnung von Aня Kasperskaya
#21
Ich… Ich glaube, es war SF [Andro]. Oder irgendetwas, das so ähnlich war. Groß, streng, alt – mit viel Marmor und goldenen Wappen. Es war kein Ort, den ich kenne. Aber er kam mir nicht fremd vor.

Ekaterina schaut sie nachdenklich an, dann wirkt sie einen Moment unsicher. Die Tasse Tee in ihrer Hand scheint schwerer zu werden.
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#22
Hast du dir das vielleicht einfach eingebildet? Ich meine… du trägst eine Uniform mit Rang? Und dann auch noch so ein perfekt sitzend? Vielleicht hat dir dein Unterbewusstsein einen Streich gespielt, es klingt für mich fast wie Propaganda… Vielleicht war gestern Abend irgendwas.
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#23
Aber es war so real. Ich konnte den Atem der Soldaten sehen. Ich habe ihren Gehorsam gespürt… so greifbar wie dieser – Tisch.

Ein Lichtblitz draußen am Fenster flackert über den Vorhang. Dann ein kurzes, kaum hörbares Knacken – wie Strom in der Wand.
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#24
Hast du das gehört?
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#25
Аня nickt, langsam. Sie sieht wieder an sich herunter. Die Uniform… sie beginnt zu flimmern. Einzelne Konturen lösen sich, als würde sie durch Wasser betrachtet.

Etwas stimmt nicht…

Ein Moment später sitzt sie plötzlich aufrecht in ihrem Bett. Kein Licht in der Küche. Keine Ekaterina. Kein Rauch. Kein Stoff auf ihren Schultern. Nur das schlichte T-Shirt und ihre zerzausten Haare im fahlen Morgenlicht.

Ihr Atem geht schnell.

War es… ein Traum?

Sie greift in ihre Tasche – und zieht einen ote Bonbon der "Tsar Victor Maufaktur für Süßwaren"hervor. Sie schaut ihn verwundert an, als hätte ihr Unterbewusstsein auch das Detail mitgenommen. Zögerlich öffnet sie das Knisterpapier, steckt ihn sich in den Mund – ein süßes Gegengewicht zur bitteren Verwirrung.
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#26
"Du hattest also einen Traum im Traum?", fragt sie in der Küche sitzend und mit ihren Fingern eine Zigarette aus der Schachtel klopfend.
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#27
Ja, es war aber so real Kata.

Aus dem Radio dront irgendeine Rede.

"Wir werden unsere Verteidigung stärken – auf See, in der Luft, im digitalen Raum. Nicht zur Eskalation. Sondern damit niemand den Fehler macht, uns zu unterschätzen.
Denn eines ist klar:
Wenn Autoritäre marschieren – dann gehen wir nicht zur Seite. Wir stehen auf."
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#28
Boar, wie mir diese Kriegstreiberei auf die Eierstöcke geht. Wie können diese selbstverliebten Idioten nur ruhig schlafen? ... Аня? Аня, du siehst so nachdenklich aus!
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#29
Die Küche ist erfüllt vom seichten Summen des Kühlschranks und dem gelegentlichen Tropfen aus dem Wasserhahn. Ein trüber Lichtstreifen fällt durch das Fenster auf den Tisch, auf dem Ekaterinas Tasse längst leer und der Löffel ist in trägen Kreisen längst liegen geblieben.

Ekaterina sitzt da, die Schultern nach vorn gerollt, Ellbogen aufgestützt, eine Zigarette zwischen den Fingern. Sie dreht sie langsam. Erst im Uhrzeigersinn. Dann gegen. Der Filter streift ihre Lippen, bleibt dort kurz, als sie mit geschlossenen Augen einatmet. Das Feuerzeug klickt. Die Flamme flackert. Ein Zischen. Sie saugt den Rauch ein, hält ihn, als wolle sie damit den Stillstand vertreiben.

Ein grauer Schleier tanzt vor ihr in der Luft.

Langsam öffnen sich ihre Lider. Ihr Blick geht ins Leere, dann zum Geschirrtuch, das schief über dem Stuhl hängt. Dann zur Wand. Dann zu ihrem Handy. Wieder weg. Gedanken fliegen wie trockene Blätter. Prüfungen, Wohnung putzen, Andreys Party nächste Woche, der kaputte Wasserhahn, Aняs seltsamer Traum.

Und dann: eine fixe Idee.

Rollenspielgruppe ... zur ... Globalen Abkühlung.

Sie sagt es laut, immer wieder. Es klingt seltsam, aber auch… irgendwie gut! Sie stützt das Kinn auf die Hand. Die Zigarette hängt am Rand ihrer Lippe. Der Rauch kriecht in einer Linie zur Decke.

Eine Kampagne, denkt sie. Nicht Fantasy. Nicht Cyberpunk. Sondern: geopolitischer Klimasimulations-Wahnsinn. Die Charaktere: diplomatische Gesandte, Aktivistinnen, Lobbyistinnen, Desinformationsagent*innen. Das Ziel: den Eiszeitalter-Konflikt verhindern. Oder auslösen. Je nach Würfelglück. Oder Stimmung.

Wer würde mitspielen?

Aня? Vielleicht. Wenn sie es akademisch aufzieht. Diese Jekaterina vom Institut? Möglich. Der mysteriöse Nachbar mit der Sammlung historischer Uniformen? Wahrscheinlich ja.

Sie lehnt sich zurück, lässt den Rauch durch die Nase ausströmen und kramt in der Küchenschublade. Zwischen Streichhölzern, Briefmarken und einem halben Müsliriegel findet sie ihren alten roten D4.

Zwei oder weniger, ich lass es.

Sie schließt die Augen. Spürt das Gewicht des Würfels in der Hand. Dann wirft sie ihn mitten auf den Tisch. Er tanzt, schlägt gegen eine Kaffeetasse, bleibt liegen.


Die Welt wird sich abkühlen, so wie ihre Zigarette weiter glimmt und der Würfel zum liegen kommen wird.
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#30
Nimmt ein altes Buch aus einem Regal und beginnt zu lesen.



Das Lied der Tremjuga

In alten Tagen, als Andro noch die größte Seefahrernation war und die Winde ihre Gebete in die Masten sangen, lebte ein Kapitän namens Kolenar Jermakow. Er war kein junger Mann mehr, aber sein Blick hatte noch das helle Funkeln des Nordsterns, in seinem Herzen glomm die Sehnsucht nach jenen fernen Küsten, die noch keinen Namen trugen. Man sagte, er sei der Letzte der großen Entdecker und der Erste, der den Zorn des Nordlichts auf sich zog.

Es geschah in einer Winternacht, als das Meer unter Eis und Sturm erzitterte. Jermakow befand sich mit seiner Fregatte Tremjuga im Golf von Tazaren, einem Ort, an dem die See flacher wird und die Sterne scheu sind. Die Männer hatten seit Tagen keine Sonne gesehen, nur das grüne Feuer des Himmels, das über ihnen flackerte. Da schwor der Kapitän, er werde das Nordlicht selbst bezwingen, wenn es ihm nicht den Weg nach Westen öffne. Er nahm seine Pfeife, warf sie ins Meer und rief:

„Wenn du lebendig bist, o Flamme des Nordens, dann zeig mir deinen Atem und ich folge ihm, bis das Eis selbst mir Tribut zahlt!“

Die See verstummte. Dann senkte sich das Licht herab wie ein Schleier aus Glas und aus dem Schein trat eine Gestalt, eine Frau formte sich aus Nebel und Schnee, die auf dem Wasser stand und letztlich aussah als sei sie aus Glas. Ihr Haar glühte wie das Polarlicht, ihre Augen waren so tief schwarz wie der Nachthimmel über den Fjorden.

„Sterblicher,“ sprach sie, „du rufst den Wind, doch kennst seinen Preis nicht. Wer den Nordweg erzwingen will, verliert den Heimweg.“

Doch Jermakow lachte. „Ich will nicht Heim. Ich will das Ende der Welt sehen.“

Da legte sie ihm die Hand auf die Brust, ihr Griff war kalt wie gläsernes Wasser. „So sollst du fahren, bis du den Morgen findest, der nicht vergeht. Dein Schiff soll brennen und doch nicht vergehen und dein Herz soll leuchten, doch nie ruhen.“

Als sie verschwunden war, brannte die Tremjuga. Nicht in Flammen, sondern im Schein des ewigen Nordlichts, das sich um ihre Masten wand wie ein grüner Schleier. Die Männer schrien, doch das Eis unter dem Schiff schmolz und sie glitten lautlos nach Westen, hinein in den Sturm.

Niemand sah sie wieder.

Viele Jahre später erzählten die Naugarder Fischer, dass man in stillen Winternächten auf dem Meer ein leuchtendes Schiff sehen könne, das gegen den Wind segelte, ohne Geräusch, ohne Schatten. Wer versuchte, sich ihm zu nähern, fand sein eigenes Schiff von Frost überzogen und hörte Stimmen aus der Tiefe. Befehle in altandroisch, Lieder von Ruhm und Verdammnis.

Einmal, so heißt es, kam ein junger Kapitän aus Naugard, der glaubte, Jermakows Flamme einfangen zu können. Sein Name war Lukan Orestow, und er führte die Brigg Naugradskaja, stolz wie ein Schwan aus Stahl. Als das Polarlicht über den Himmel zog, hielt er Kurs auf die Erscheinung. Seine Männer sahen die Tremjuga in der Ferne - Masten aus grünem Feuer, Segel aus Dampf - sie hörten eine Stimme über das Wasser rufen:

„Wer den Weg des Nordens sucht, der kehre um, ehe das Eis ihn erinnert!“

Doch Lukan lachte, wie einst Jermakow gelacht hatte und fuhr weiter. Die Brigg verschwand im Licht. Wochen später trieb sie leer ans Ufer, die Deckplanken verbrannt, das Steuerrad zu Glas geschmolzen. Nur ein einziger Gegenstand lag auf dem Kapitänstisch: eine Pfeife aus schwarzem Eis, die brannte, ohne zu schmelzen.


Seitdem sagt man in Naugard: Wenn das Nordlicht tanzt, weint das Meer. Und wer den Namen Tremjuga ausspricht, der ruft Wind und Feuer zugleich.


In Andro selbst erzählt man die Sage anders. Dort heißt es, Kolenar Jermakow habe den Geist der See nicht verflucht, sondern geheiratet. Dass die Tremjuga nun das Tor zwischen den Welten bewacht, wo das Salz des Meeres in die Sonne des Südens übergeht. Wenn Sturm und Wind gegeneinander schlagen, sagen die Fischer:

„Das ist der Streit des Ehepaars im Nebel. Sie will ihn heim, er will noch weiterfahren.“


Manchmal, in besonders klaren Nächten, sieht man über dem Meer ein zweites Licht. Ein rötliches, warmes Feuer neben dem kalten Grün des Nordlichts. Dann flüstern die Alten:

„Das ist Orestow mit Zveryna, der Tochter des Jermakow, die sich nie beugen ließ, geboren aus Sturm und Stolz.“


So bleibt die Sage vom Kapitän der Tremjuga eine Warnung und ein Versprechen zugleich. Sie erzählt von der Sehnsucht der Seefahrer nach Unendlichkeit und davon, dass kein Mensch den Himmel zwingen kann, ohne selbst zum Teil seiner Kälte zu werden.

Und wenn die Kinder der naugardischen Küste im Winter an den Fenstern stehen und das Nordlicht sehen, sagen ihre Mütter leise:

„Schaut gut hin, Kinder. Vielleicht winkt euch heute Nacht der alte Jermakow zu. Aber winkt nicht zurück, sonst brennt auch euer Herz bis zum Tauwetter.“
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